Interview mit Marin Niehues – Projekte mit der Kanban-Methode
Wir haben bei Marin Niehues, Berater für Organisationsentwicklung & Delivery Management, nachgefragt welche Erfahrungen er mit der Kanban-Methode in Projekten gemacht hat und auf welche Herausforderungen er getroffen ist.
Wie kann man die Kanban Methode Ihrer Meinung nach am besten definieren?
Marin Niehues: Die Kanban-Methode ist ein hochadaptives Rahmenwerk zur Prozessoptimierung, das in erster Linie aus dem Lean-Management kommt. Die zentrale Idee besteht darin, Arbeitsprozesse sichtbar zu machen und den Arbeitsfluss zu steuern, um Engpässe frühzeitig zu erkennen und zu beseitigen.
Ein besonderes Augenmerk möchte ich auf die modulare Vorgehensweise legen, die Kanban so attraktiv für Unternehmen verschiedenster Branchen macht. Durch die Visualisierung des Workflows in Form eines Boards können Teams ihre Arbeit flexibel gestalten und sind in der Lage, in Echtzeit auf Veränderungen zu reagieren. Dies erlaubt eine nahtlose Integration in bestehende Prozesse und stellt sicher, dass die Methode skaliert werden kann, vom Einzelprojekt bis zur gesamten Organisationsstruktur.
Die Anpassungsfähigkeit von Kanban zeigt sich auch in der Möglichkeit, Regeln und Policies schrittweise einzuführen und anzupassen. Durch die Einführung von WIP-Limits (Work in Progress Limits) und anderen Methoden können Teams die Methode optimal an ihre eigenen Bedürfnisse anpassen und kontinuierlich an Verbesserungen arbeiten.
Kanban ist kein statisches Rahmenwerk, sondern ein lebendiges System, das sich mit den Bedürfnissen des Teams und der Organisation weiterentwickelt. Die Integration von Feedbackschleifen und Retrospektiven fördert die lernende Organisation und ermöglicht eine kontinuierliche Steigerung der Wertschöpfung.
Geben Sie uns bitte einen Überblick zu dem Projekt und dessen Ziele, in dem Sie Kanban genutzt haben.
Marin Niehues: Das Hauptziel des Projekts war die explorative Implementierung eines dezentralen Energieversorgungssystems in einem kleinen Dorf zur Entwicklung neuer Renewable Prosumer Produkte. Ziel war es ausserdem, die Abhängigkeit von zentralisierten Energielieferanten zu verringern, einen Prosumermarkt zu öffnen und die Energieeffizienz zu steigern.
Was waren Ihre Aufgaben und welche Tools und Metriken haben Sie genutzt?
Marin Niehues:
Als Berater für Organisationsentwicklung & Delivery Management war ich verantwortlich für den Aufbau einer sinnvollen Prozesslandschaft zur effektiven Koordination zwischen den technischen Teams, den Stakeholdern, den Lieferanten und dem Management. Ein weiterer Schwerpunkt meiner Tätigkeit war die Herstellung von Transparenz im Projektfortschritt und die Identifikation und Behebung von prozessualen Bottlenecks. Ein spezieller Fokus lag darauf, das Projekt mittels Multi-Level Kanban in die bestehenden Programm- und Portfoliostrukturen des Unternehmens einzubetten.
Für die Projektverwaltung und -überwachung setzten wir Atlassian Jira zur Prozessvisualisierung und -messung und Confluence als Supporting Tool zur Wissensspeicherung ein. Das digitale Kanban-Board in Jira war speziell für Multi-Level-Anforderungen konfiguriert.
Auf dem Kanban-Board verfolgten wir verschiedene Metriken:
- Durchlaufzeit: Misst die Zeit von der Aufnahme bis zur Fertigstellung einer Aufgabe.
- Zykluszeit: Bezieht sich auf die Zeit, die eine Aufgabe innerhalb einer bestimmten Prozessstufe benötigt.
- Blockierzeit: Erfasst die Zeit, in der eine Aufgabe nicht bearbeitet werden kann, beispielsweise durch externe Abhängigkeiten.
Einfluss auf Entscheidungen: Die Metriken halfen uns, Engpässe frühzeitig zu erkennen und Ressourcen umzuverteilen. Durch die Verfolgung der Blockierzeiten konnten systemische Probleme identifiziert werden. Diese Metriken beeinflussten unsere Entscheidungsfindung massgeblich und ermöglichten eine agile, dynamische Projektsteuerung. Dank der Multi-Level-Kanban-Struktur konnten wir sowohl den Tagesbetrieb als auch die langfristige Unternehmensstrategie optimal berücksichtigen.
Was waren Herausforderungen, mit denen Teams bei der Einführung von Kanban konfrontiert werden, und wie gehen Sie mit diesen Herausforderungen um?
Marin Niehues:
Herausforderungen bei der Einführung von Kanban waren zum Beispiel:
- Unzureichende Anpassung auf die eigenen Bedürfnisse: Eine häufige Falle bei der Einführung von Kanban ist die Annahme, man könne eine Standardvorlage verwenden und sofort effizient sein. Die Realität ist komplexer: Jedes Team hat seine eigenen Abläufe und Herausforderungen.
- Kultureller Widerstand: Oft trifft die Einführung eines agilen Frameworks wie Kanban auf Widerstände im Team oder sogar auf Unternehmensebene. Mitarbeitende neigen dazu, an etablierten Prozessen festzuhalten und Veränderungen können Unsicherheit und Angst hervorrufen.
- Unrealistische Erwartungen: Manchmal denken Teams, Kanban sei eine Zauberformel. Dann werden unrealistische Erwartungen an die Geschwindigkeit und Qualität der Ergebnisse gesetzt.
- Unterschätzung der Methode: In einigen Fällen wird Kanban zu oberflächlich implementiert, weil man denkt, es sei einfach ein „Board mit Aufgaben“. Das führt zu einer schlechten Adaption und geringer Effektivität.
- Fehlende Wert- und Kundenorientierung: Oft wird der Fokus nur auf die interne Optimierung gelegt und die Perspektive des Endkunden vernachlässigt. Teams konzentrieren sich darauf, Tasks zu bewegen, anstatt den tatsächlichen Wert der gelieferten Arbeit zu betrachten.
Lösungsansätze für diese Herausforderungen sehe ich im Einsetzen von spezialisierter Beratung durch einen erfahrenen Agile Coaches/Consultant. Ein solcher kann die Einführung des Kanban-Systems begleiten und sicherstellen, dass es an die spezifischen Bedürfnisse des Teams und der Organisation angepasst wird.
Change-Management und Führungsunterstützung: Der kulturelle Wandel muss von der Führungsebene getragen und begleitet werden. Eine gezielte Change-Management-Strategie kann dabei helfen, Widerstände zu überwinden.
Bildung und Aufklärung: Ein Training oder Workshop kann helfen, die Erwartungshaltung im Team richtig zu setzen. Es ist wichtig, die langfristigen Vorteile und den kontinuierlichen Verbesserungsprozess hervorzuheben.
Einbettung einer Unternehmensfunktion zur Prozessoptimierung: Um Kanban nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, sollte eine Unternehmensfunktion etabliert werden, die sich um die kontinuierliche Verbesserung und Anpassung der Prozesse kümmert.
Wertstromanalyse und Kundenfokus: Eine Wertstromanalyse kann helfen, die gesamte Lieferkette aus der Perspektive des Kunden zu betrachten. Dies ermöglicht den Teams, sich auf die tatsächlichen Wertschöpfungsaktivitäten zu konzentrieren. Kundenzufriedenheitsmetriken und kontinuierliches Feedback sollten integriert werden, um sicherzustellen, dass die Teams wirklich Wert schaffen und nicht nur Aufgaben abarbeiten.
Können Sie ein Beispiel für ein Projekt nennen, bei dem Sie den Kanban-Prozess anpassen mussten, um veränderten Anforderungen oder Prioritäten Rechnung zu tragen? Wie sind Sie mit der Umstellung umgegangen, und was waren die Ergebnisse?
Marin Niehues:
In einem Softwareentwicklungsprojekt, das ich leitete, hatten wir natürlich mit Bugs zu tun, das ist in der Softwareentwicklung nahezu unvermeidlich. Um diesen speziellen Anforderungen Rechnung zu tragen, habe ich eine separate, priorisierte "Swimlane" ausschließlich für Bugs eingerichtet. Diese Änderung im Kanban-Board erlaubte es uns, den Fokus auf diese kritischen Aufgaben zu legen, ohne den Gesamtfluss der restlichen Arbeit zu stören. Da Bugs oft dringlich sind und rasche Behebung erfordern, half diese spezielle Swimlane dem Team, schnell zu reagieren und die Bugs effizient zu behandeln.
In einem anderen Projekt, das mehrere funktionsübergreifende Teams involvierte, habe ich "Team Swimlanes" eingeführt, um den spezifischen Arbeitsfluss jedes Teams besser darzustellen und so die Koordination zu verbessern.
In noch einem anderen Fall, einem regulierten Projekt in der medizinischen Dienstleistungsbranche, musste ich zusätzliche Events einführen, um den Compliance- und Audit-Anforderungen gerecht zu werden. Hierbei wurden Reviews und Audits als Bestandteil des Kanban-Prozesses integriert, ohne das agile Naturell des Projekts zu untergraben.
Jede dieser Anpassungen war ein organisches Ergebnis der laufenden Verbesserung und eine Reflexion, die Kanban ermöglicht, Dies trug dazu bei, den Projektfortschritt zu beschleunigen und Risiken zu minimieren.
Gibt es andere Tools, die Sie anstelle von Kanban empfehlen oder die Sie kombinieren würden?
Marin Niehues:
Erstmal ist es wichtig zu betonen, dass Kanban in erster Linie ein Framework und keine Software oder ein Tool ist. Es bietet flexible Richtlinien zur Prozessoptimierung, die durch diverse Tools unterstützt werden können.
- Lean Management: Lean-Prinzipien können nahtlos mit Kanban kombiniert werden, um den Fokus auf Wertströme zu legen und Verschwendung in Prozessen zu minimieren. Hierbei geht es um die kontinuierliche Verbesserung und die Maximierung des Kundennutzens.
- Scrum: Scrum als Alternative zu Kanban ist besonders für explorative und komplexe Projekte geeignet, in denen der Scope nicht einfach zu definieren ist. Das strukturierte Rahmenwerk von Scrum kann hierbei helfen, iterative und inkrementelle Entwicklungen effektiver zu gestalten.
- Standardisierte Methoden: In weniger komplexen Bereichen wie der Fertigung können standardisierte Arbeitsmethoden hilfreich sein, um Prozesseffizienz zu gewährleisten. Diese Methoden sind weniger flexibel als Kanban oder Scrum, können aber in bestimmten Kontexten effektiver sein.
- Kombination mit OKRs: Bei der Verwendung von Multi-Level Kanban können Objectives and Key Results (OKRs) eine wertvolle Ergänzung sein. Sie helfen dabei, übergeordnete Unternehmensziele klar zu definieren und messbare Ergebnisse zu erzielen, die direkt in das Kanban-System einfliessen können. Die Wahl der ergänzenden oder alternativen Methoden hängt dabei stark von den spezifischen Anforderungen und dem Kontext des Projektes ab.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihren Kanban-Projekterfahrungen, und wie haben diese Erkenntnisse Ihre Vorgehensweise bei nachfolgenden Projekten beeinflusst?
Marin Niehues:
Die Visualisierung unzureichender Prozesse führt nicht zu ihrer Verbesserung: Die Schönheit von Kanban liegt in seiner Transparenz. Aber wenn der zugrundeliegende Prozess ineffizient ist, wird diese Ineffizienz lediglich sichtbar gemacht. Es ist unsere Aufgabe, diese Schwachstellen dann systematisch anzugehen und zu verbessern.
Alle Wege führen zum Kunden: Es ist entscheidend, dass jeder Prozessschritt, jede Entscheidung und jede Aktion auf die Schaffung von Mehrwert für den Kunden ausgerichtet ist. Wenn eine Aktivität nicht in irgendeiner Weise zum Endziel der Kundenorientierung beiträgt, muss ihre Notwendigkeit hinterfragt werden.
Flexibilität ist mehr als nur ein «nice to have»: In einem Markt, der sich ständig ändert, ist Flexibilität eine Grundvoraussetzung. Die Fähigkeit eines Teams, sich an veränderte Bedingungen anzupassen, ohne den Fokus zu verlieren, ist nicht nur wünschenswert, sondern essenziell für langfristigen Erfolg.
Kein Team ist wie das andere, und dementsprechend sollte auch kein Kanban-Framework gleich sein: Jedes Team hat seine eigene Kultur, seine eigenen Herausforderungen und seine eigenen Stärken. Ein standardisiertes Kanban-Board wird dem nicht gerecht. Es muss auf das spezifische Team und seine Bedürfnisse zugeschnitten sein, um wirkungsvoll zu sein.
Möchten Sie noch etwas erwähnen?
Marin Niehues:
Selbstverständlich, zum Abschluss möchte ich noch ein paar wichtige Aspekte hervorheben. Die erfolgreiche Implementierung von Kanban erfordert deutlich mehr als nur das blosse Aufstellen eines Boards und das Verschieben von Karten. Es ist eine Frage der Kunden-Zentrizität, bei der es entscheidend ist, Mehrwert für den Endverbraucher zu schaffen. Darüber hinaus ist die professionelle Institutionalisierung von Prozess- und Management-Frameworks unerlässlich für den langfristigen Erfolg. Man kann nicht einfach eine Methode einführen und erwarten, dass sie autonom funktioniert. Sie muss in die Organisationsstruktur integriert und betreut werden, um ihr volles Potenzial auszuschöpfen.
Letztlich ist Kanban ein "lebender Prozess", der ständig angepasst und verbessert werden sollte. Er ist nicht statisch, sondern flexibel und anpassungsfähig, genau wie die Teams, die ihn nutzen. Die Prozessoptimierung über Kanban oder andere Frameworks ist also nicht am Tag X einfach abgeschlossen, sondern ein kontinuierlicher Prozess der Optimierung und Anpassung. Und genau das ist es, was dieses und andere agile Frameworks so wertvoll und effektiv macht.
Wir bedanken uns bei Marin Niehues für das spannende und sehr informative Interview und den tiefen Einblick in die Herausforderungen auf die man als Berater für Organisationsentwicklung & Delivery Management treffen kann.